«Mehr über Sorge und Pflege reden»

Pflegewissenschaftler André Fringer untersuchte im Auftrag der Gemeinde Bassersdorf die Situation pflegender Angehöriger. Er leitet aus den Ergebnissen auch Empfehlungen für andere Gemeinden ab.

Herr Fringer, wie repräsentativ sind die Forschungsergebnisse aus Bassersdorf?
André Fringer: Sie bewegen sich ungefähr im Durchschnitt anderer Untersuchungen. Bassersdorf schlägt weder nach oben noch nach unten aus. Es ist eine recht ländliche Gemeinde, die aber in der Nähe der Stadt Zürich liegt. In abgelegeneren Gemeinden sähe es vermutlich anders aus. Es gäbe weniger Entlastungsangebote, die Menschen wären noch stärker auf sich allein gestellt.

Was war für Sie der überraschendste Befund?
Wir haben die pflegenden Angehörigen zum ersten Mal nach unterschiedlichen Falltypen analysiert. Dabei zeigte sich, dass doch rund ein Viertel dem kritischen Verhaltensmuster zuzuordnen ist. Das bedeutet: Das Pflegearrangement droht zusammenzubrechen. Aber auch die sogenannt Selbstregulierenden sollte eine Gemeinde im Auge behalten. Sie gilt es in ihrer Fähigkeit zum Selbstmanagement zu stärken. Mit unserer Studie erhält die Gemeinde einen Blick dafür, welche Personengruppen welche Unterstützung benötigen.

Wurden die pflegenden Angehörigen bisher zu stark als einheitliche Gruppe betrachtet?
Wir Forschenden wie auch die politischen Akteure sind Lernende. Die Falltypen, die wir an der FHS St. Gallen entwickelt haben, dienen als Lesehilfe zu den Bedürfnissen pflegender Angehöriger. Ich halte es für ganz wichtig, dass sich die Gesellschaft da auf den Weg macht. Wenn wir pflegende Angehörige unterstützen wollen, brauchen wir nicht das Giesskannenprinzip, nicht EINE Intervention oder EIN Projekt. Vielmehr sollten wir uns überlegen, welche Hilfe spezifische Gruppen brauchen. Nicht alle Angebote entfalten auf alle Typen eine Wirkung.

Warum fällt es manchen Menschen so unendlich schwer, fremde Hilfe anzunehmen?
In die Rolle des pflegenden Angehörigen rutscht man nach und nach hinein. Am Anfang läuft es gut, dann nimmt die Belastung zu. Man stellt die eigenen Bedürfnisse zurück und isoliert sich zunehmend. Irgendwann steckt man derart im Schraubstock drin, dass man die Hilfe gar nicht mehr sieht. Dieses Hineinwachsen, Stück für Stück, macht es so schwierig, dann mal zu sagen: Jetzt reichts. Man macht sich schlicht gar keine Gedanken darüber und verpasst den Punkt, an dem man sich Hilfe holen sollte. Dazu kommen Erwartungen der betreuten Person, nach dem Motto: Gell, Tochter, wenn ich dann einmal nicht mehr kann, bist du für mich da. Auch ist es nicht immer einfach, fremde Menschen in die Wohnung und damit in die eigene Privatsphäre zu lassen. Habe ich aufgeräumt? Verhalte ich mich richtig, verliere ich mein Gesicht? Es gibt Situationen, in denen schon fremde Blicke verletzend sein können.

Wie lässt sich die Skepsis abbauen?
Eine ganz konkrete Möglichkeit besteht darin, dass die Spitexmitarbeitenden bei ihren Einsätzen eine freiwillig tätige Person mitnehmen. So können sich die Menschen kennenlernen, Vertrauen kann aufgebaut werden. Wenn das klappt, kann die oder der Freiwillige später Unterstützungsaufgaben übernehmen. Aus solchen Arrangements sind schon Freundschaften entstanden. Generell sollten wir in unserer Gesellschaft mehr über Sorge und Pflege reden. Ich finde, dass bereits den Kindern in der Schule gesagt werden müsste, was Pflege bedeutet. Wir Menschen sind immer aufeinander angewiesen. Die Selbstbestimmung, die heute so hochgehalten wird, ist weitgehend ein Trugschluss. Wir können unser Leben nicht selbst bestimmen, aber selbst gestalten können wir es sehr wohl.

Was empfehlen Sie Bassersdorf und anderen Gemeinden?
Mit der alternden Gesellschaft kommen steigende Pflegekosten auf die Gemeinden zu. Diese können es sich heute nicht mehr erlauben, nur zu reagieren. Sie müssen proaktiv agieren. Es gilt vermehrt das Bewusstsein zu schaffen, dass die Unterstützung pflegender Angehöriger hilft, Kosten zu sparen. Wenn etwa die kritische Fallgruppe präventiv durch Beratung und Unterstützung angesprochen wird, können verfrühte Heimeintritte vermieden werden. Dabei braucht es vielschichtige Entlastungs- und Unterstützungsangebote verschiedener Leistungserbringer, die wie Zahnräder ineinandergreifen, um ein gutes Angebots- und Versorgungsklima für pflegende Angehörige herzustellen. Die Gemeinden werden in Zukunft in der Moderation und Koordination dieser Prozesse eine zentrale Rolle wahrnehmen.

Texte: Susanne Wenger
Erscheinungsort: Programm Socius der AGE-Stiftung