Fasten bis zum Tod

Von Mellisa Müller - Erschienen im St.Galler Tagblatt vom 15.03.2017

Von einem Tag auf den anderen gerät die Welt einer Frau mit multipler Sklerose aus den Fugen. Durch einen Schub wird die schwerkranke 48-Jährige inkontinent und kann auch ihren Stuhlgang nicht mehr halten. Eine gepflegte Erscheinung zu sein, ist dieser Langzeitpatientin enorm wichtig. Dass sie nun «Windeln» braucht, ist für sie ein inakzeptabler Verlust von Würde. Sie entscheidet sich fürs Sterbefasten und weiht die Pflegenden ein. Diese akzeptieren das und sichern ihr die Unterstützung zu. Der Heimleiter ist aber dagegen. «Wenn die Presse erfährt, dass wir Bewohner verhungern lassen, haben wir einen Skandal!» So kommt es intern zum Konflikt zwischen Chef und Pflegepersonal. Die Frau zieht ihren Plan durch. Sie trifft sich jeden Nachmittag mit ihrem Mann im Café, ein Ritual, das sie weiter pflegt. Um ihr Vorhaben gegenüber den Mitpatienten zu verschleiern, nimmt sie auch an allen Mahlzeiten in der Einrichtung teil und isst wenige Bissen. Dies verzögert den Sterbeprozess. Nach sechs Wochen stirbt sie. «Dieses Beispiel zeigt, dass es in der Praxis noch keinen professionellen Umgang mit dem Thema Sterbefasten gibt», sagt André Finger, Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in St. Gallen. Seit fünf Jahren forscht er über das Thema und befragt Betroffene und Angehörige.

Die meisten sterben nach drei Wochen

Wie die 48-jährige Patientin wählen etliche schwerkranke oder lebensmüde Menschen diese Form des «natürlichen» Suizids: Sie verzichten auf Essen und Trinken. «Es gibt viele Fälle, die nicht als solche deklariert sind», sagt Fringer. «Wenn zum Beispiel eine ältere Dame in einem Altersheim zu essen aufhört, weil sie das für sich allein entschieden hat, wird das oft stillschweigend toleriert.» Ab sieben Tagen bewussten «Fastens» von Sterbepatienten sprechen die Fachleute von «Sterbefasten». Bei den meisten dauert es drei Wochen, bis sie sterben. In der Regel verspürt ein sterbender Mensch in seinen letzten Tagen keinen Hunger und Durst mehr. Der Geruchssinn schwindet, nichts schmeckt mehr. Der Körper verlangt nicht mehr, was er nicht länger braucht. «Ernährung am Lebensende wird massiv überschätzt», sagt Daniel Büche, Leiter des Palliativzentrums am Kantonsspital St. Gallen. «Dass man den Appetit verliert und aufhört zu essen, gehört zum Sterben dazu.

Das hat aber im strikten Sinn nichts mit Sterbefasten zu tun.» Manche kommen beim Fasten in einen bewusstseinserweiterten Zustand. «Es werden Endorphine gebildet, die Euphorie auslösen können. Das wirkt, wie wenn man Morphin spritzt.»

Die Vorstellung eines qualvollen Todes durch Verdursten macht Angst. Angehörige tun sich oft schwer damit, wenn sich ein Mensch fürs Sterbefasten entscheidet. «Es ist in uns verankert, dass wir so empfinden, als seien wir ewig lebend», sagt Fringer. «Wir können es nur schwer nachvollziehen, wenn jemand an diesen Wendepunkt kommt. Da eröffnen sich neue Perspektiven. Die Sehnsucht nach Entlastung, nach Abschluss. Vielleicht auch die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.» Essen sei etwas zutiefst Soziales. «Schon kurz nach der Geburt, wenn wir an die Brust gelegt werden, ist es das innigste soziale Element.» Und der Mensch sterbe auch sozial: «Die Menschen, die das Essen und Trinken reduzieren, ziehen sich aus der Gemeinschaft der Lebenden zurück.» Schon bei Naturvölkern wie Eskimos und Indianern entfernten sich altersschwache Mitglieder von der Sippe, um allein und ohne Nahrung in der Wildnis zu sterben.

Für manche eine Alternative zu Dignitas und Exit

Heutzutage erscheint der freiwillige Verzicht auf Essen und Trinken einigen Patienten als Alternative zu Dignitas und Exit. Insbesondere in Deutschland, wo der assistierte Suizid verboten ist. Sterbefasten ist ein längerer Prozess. Manche erleben in der Askese Momente der Klarheit, spüren, dass sie weiterleben wollen – und fangen wieder zu essen an. «Man muss aufpassen, dass sich nach der Entscheidung für das Sterbefasten kein sozialer Druck auf den Patienten entwickelt. Dass er wieder aussteigen darf», sagt André Fringer. Wer den Weg des Sterbefastens wählt, nimmt nur noch wenige Milliliter Flüssigkeit am Tag zu sich. Sie reichen aus, um die Mundhygiene zu gewährleisten und die Mundschleimhäute feucht zu halten. Die reduzierte Flüssigkeitsaufnahme führt dazu, dass der Körper kaum mehr die körpereigenen Abbauprodukte ausscheiden kann – und sich so selbst «vergiftet». «Das ist aber nicht schmerzhaft – vielmehr kommt es zu einem langsamen, meist friedlichen Einschlafen», sagt Daniel Büche. Laut der Webseite sterbefasten.org, die von einer Stiftung von Exit betrieben wird, kann Sterbefasten «eine humane Möglichkeit sein, ohne grosses Leiden selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden». Daniel Büche bezweifelt jedoch, dass dies der Regelfall ist. In der Originalliteratur von Boudewijn Chabot und Christian Walther werde festgehalten, dass Sterbefasten nicht ohne ärztliche Hilfe durchgeführt werden soll, da häufig auch eine medikamentöse Unterstützung nötig sei. «Wie sanft ist das wirklich, wenn man Medikamente nehmen muss? Das ist keine problemlose Methode», findet er und spricht von einer «Medikamentierung am Lebensende». Für einige Menschen sei das Sterbefasten «relativ hart» und mit Entbehrung verbunden: «Sie haben Lust auf Essen, versagen sich aber etwas.» Sterbefasten könne mit Leid verbunden sein. Büche weist Patientinnen und Patienten nicht aktiv auf die Möglichkeit hin. «In erster Linie will ich das Leben und die Lebensqualität schützen.» 

Ekelthema Pfege im Alter

Fringer geht davon aus, dass das Sterbefasten zum «Megathema» wird. Das hänge mit der Überalterung zusammen. «Je älter die Menschen werden, desto mehr bekommen wir mit, was es heisst, pflegebedürftig und chronisch leidend zu werden; vielleicht auch, sozial vereinsamt dahinzuvegetieren.» Pflege im Alter ist für viele ein Ekelthema. Doch irgendwann muss man sich fragen: Was heisst es für mich, in einem Pflegezentrum leben zu müssen? Nicht mehr machen zu können, was ich will? Da mag Sterbefasten für manche als möglicher Weg erscheinen, weil es den Eindruck eines natürlichen Todes vermittelt. «Es kann für eine Person stimmig sein, wenn es von ihrer Familie, den Medizinern, ja vom ganzen Umfeld wohlwollend begleitet wird», sagt Fringer. Man müsse stets den individuellen Fall betrachten, abhängig von der Biografie einer Person. Ist sie chronisch krank und will dem Schmerz ein Ende bereiten? Oder ist sie kerngesund, aber depressiv? Ist sie oder er vereinsamt oder in einem Umfeld von Freunden und Familie sozial gut eingebettet? Er hütet sich davor, zu werten, ob Sterbefasten gut oder schlecht sei. «Wir haben noch zu wenig Wissen darüber.» Der 43-Jährige befragt derzeit in einer schweizweiten Studie Hausärzte, Spitexmitarbeiterinnen und Langzeitpflegeinstitutionen zu ihren Erfahrungen. «Wir wollen wissen, wie häufig das Sterbefasten vorkommt. Betrachten sie das Sterbefasten als etwas Natürliches oder als Suizid?», sagt er und fügt hinzu: «Wir müssen schauen, dass wir den Menschen in dieser Situation gerecht werden. Was brauchen wir als Ärzte und Pflegefachpersonen, damit wir adäquat und individuell beraten können? Wie reagieren wir professionell auf eine Person, die sagt: Ich will jetzt sterbefasten?»

Wer sich dafür entscheidet, braucht einen starken Willen. Laut Pflegeprofies handelt es sich um gut organisierte und besonnene Menschen, die diesen Schritt erst nach reiflicher Überlegung machen. «Man kann es nicht aus einer Laune heraus tun», sagt auch Fringer. Der Verstand bezwingt den Körper. Es geht um Autonomie und Selbstgestaltungswillen. Und gerade deshalb passe Sterbefasten zum Zeitgeist.

Erschienen im St.Galler Tagblatt