Pflegende Angehörige sind keine einheitliche Gruppe
Was benötigen pflegende Angehörige, um sich bei ihrer gesellschaftlich wertvollen Aufgabe nicht zu überlasten? Die Gemeinde Bassersdorf wollte es genau wissen und befragte die Bevölkerung. Dabei zeigte sich: Ansprache und Hilfe sollten stärker differenziert werden.
Die Frau sass im Publikum und meldete sich gegen Ende des Informationsanlasses, an dem die Gemeinde Bassersdorf im Dezember 2016 interessierte Einwohnerinnen und Einwohner über die Ergebnisse der Angehörigenbefragung informierte. Sie pflege ihre betagte Mutter und befinde sich am Rand der Erschöpfung, sagt die Frau, doch die Mutter akzeptiere keine fremde Hilfe: «Das geschieht wohl erst, wenn ich zusammenbreche.» Eine ähnliche Situation erlebte vor einiger Zeit die Bassersdorferin Heidi Mast. 15 Jahre lang pflegte sie ihren inzwischen verstorbenen Ehemann, der mit 58 an einer frühen Form von Alzheimer erkrankt war. Auch er wollte keine fremde Hilfe annehmen, wie Heidi Mast an einem Podiumsgespräch im Rahmen des Informationsanlasses erzählte. Sie kümmerte sich Tag und Nacht um ihren erkrankten Mann, gönnte sich erst nach zehn Jahren wieder einmal Ferien. Doch wenn die betreuende Person überlastet sei und deswegen selbst bedürftig werde, sei niemandem geholfen, riet Heidi Mast der Frau im Publikum: «Machen Sie Ihrer Mutter klar, dass es so nicht weitergehen kann, und holen Sie sich unbedingt Hilfe!»
Diese Einblicke in konkrete Lebenssituationen zeigten viel Typisches für die Situation pflegender Angehöriger. Die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen sich um ihre unterstützungsbedürftige Nächsten kümmern. Die Belastungen. Die emotionale Betroffenheit, die innerfamiliären Konstellationen. Und die Erfahrung, wie gut der Austausch mit anderen Betroffenen tut. «Die grosse Arbeit, die pflegende Angehörige leisten, geschieht hinter den Kulissen und ist oft mit Scham behaftet, wenn man sich überfordert fühlt», stellt der Pflegewissenschaftler André Fringer von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in St. Gallen fest. Dabei sei es nicht etwa eine Schwäche, Hilfe anzunehmen, sondern absolut normal, ja geradezu eine Notwendigkeit: «Wenn es dem pflegenden Angehörigen gut geht, geht es auch der betreuten Person gut.» Fringer führte im Auftrag der Gemeinde Bassersdorf die Angehörigenbefragung durch.
Männer holen auf
Die mittelgrosse Agglomerationsgemeinde im Dreieck zwischen Zürich, Winterthur und dem Flughafen Kloten setzt sich in ihrer Altersstrategie unter anderem zum Ziel, pflegende Angehörige besser zu unterstützen. Dadurch sollen ältere Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben können. Der Angehörigenbegriff ist weit gefasst und beinhaltet auch Freunde und Nachbarn. Um aber den pflegenden Angehörigen den Rücken zu stärken, «muss man zuerst einmal deren Bedürfnisse kennen», sagt die Bassersdorfer Altersbeauftragte Esther Diethelm, deshalb die wissenschaftliche Erhebung. Die Teilnahme war freiwillig, 257 Personen machten mit, das entspricht fast neun Prozent der Haushalte. Laut Fringer ein guter Rücklauf, der stabile Aussagen ermögliche. Die wichtigsten Befunde:
- Rund die Hälfte der Befragten pflegt, unterstützt oder betreut aktuell einen Angehörigen, mehrheitlich einen Elternteil oder die Partnerin, den Partner. Die pflegenden Angehörigen sind zwischen 35 und 92 Jahre alt, im Durchschnitt 66-jährig. Zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Die häusliche Pflege sei weiblich, sagt Fringer, doch der Anteil der Männer wachse. Die betreuten Personen sind ebenfalls mehrheitlich weiblich und durchschnittlich 77-jährig. Ein Viertel ist an Demenz erkrankt. Die pflegenden Angehörigen wenden für ihre Unterstützung im Schnitt acht Stunden pro Woche auf, dies seit durchschnittlich fünf Jahren. Jährlich werden in Bassersdorf fast 22'000 Stunden Angehörigenpflege erbracht, den finanziellen Gegenwert schätzen die Wissenschaftler auf rund eine halbe Million Franken. Die pflegenden Angehörigen helfen täglich beim Kochen, im Haushalt und bei der Einnahme von Medikamenten. Mehrmals wöchentlich leisten sie der betreuten Person Gesellschaft und gehen für sie einkaufen. Transportdienste und Hilfe bei administrativen Angelegenheiten erfolgen mehrmals pro Monat. Doch was, wenn die betreute Person intimere Unterstützung braucht, beim Toilettengang oder bei der Körperpflege? Immerhin noch 40 Prozent der befragten Angehörigen können sich vorstellen, auch dann noch Hilfe zu leisten, unter den Freunden und Nachbarn sind hingegen nur noch wenige dazu bereit.
Und plötzlich diese Nähe
- Über 45 Prozent der pflegenden Angehörigen sind erwerbstätig, haben also Beruf und Angehörigenpflege unter einen Hut zu bringen und fühlen sich darin von ihrem Arbeitgeber mehrheitlich nicht unterstützt. Als positiv erleben pflegende Angehörige, dass die Aufgabe sie persönlich bereichert und die unterstützte Person sich dankbar zeigt. Als belastend empfinden sie das Leid der erkrankten Person und wie sich die zwischenmenschliche Beziehung verändert. Denn da ist plötzlich diese Nähe. «Dadurch können Beziehungs- und Rollenkonflikte aufbrechen», sagt Fringer. Belastend sind auch die Befürchtungen, an die eigenen Grenzen zu gelangen, und mangelnde Anerkennung, gerade von anderen Angehörigen, die dem «Kümmerer» in der Familie die Betreuungsaufgaben überlassen. Fringer spricht von einer «innerfamiliären Ungerechtigkeit», die frustrierend sein könne. Als belastend werden zudem aufwändige Koordinationsaufgaben bei der Betreuung wahrgenommen. Dies alles hat negative Folgen für pflegende Angehörigen: Am häufigsten leiden sie unter Stress und Rückenschmerzen, gelegentlich auch unter Erschöpfung, Schlafmangel, Zukunftsangst, Gefühlsschwankungen und Schmerzen.
- Zur Unterstützung wünschen sich pflegende Angehörige am häufigsten eine Stellvertretung für die Betreuung. Viele machen sich Sorgen, was passiert, wenn sie selbst zwischendurch unpässlich sind, etwa an einer Grippe erkranken. Am zweithäufigsten ist der Wunsch nach einer Auszeit, gefolgt von einer bezahlbaren Lösung für die Betreuung zuhause anstatt im Pflegeheim. Hilfe erhalten die Befragten hauptsächlich von anderen Familienmitgliedern und der Spitex. Auch die hausärztliche Versorgung wird fleissig genutzt. Die Mehrheit hält kurzfristig verfügbare Ferienbetten, eine Tages- und Nachtklinik, stundenweise Betreuung zuhause durch geschulte Freiwillige, Gesprächsrunden und Weiterbildung für notwendig. Gleichzeitig nutzt ein Viertel der pflegenden Angehörigen jedoch vorhandene Angebote in der Gemeinde und in der Region – Beratungsstellen, freiwillige Besuchsdienste, kirchliche Seelsorge – gar nicht. Am häufigsten, weil die unterstützte Person keine Fremdbetreuung wünscht, am zweithäufigsten, weil die Angebote nicht bekannt sind.
- Pflegende Angehörige sind keine homogene Gruppe. Ob sie Unterstützungsangebote nutzen oder nicht, hat mit spezifischen Bedingungen zu tun. Fringer unterscheidet vier Verhaltensmuster. Die Distanzierten: Angehörige leisten gar keine Pflege, weil sie im Beruf zu sehr beansprucht sind, weit weg wohnen oder das Verhältnis zur pflegebedürftigen Person schlecht ist. Die notwendige Pflege und Betreuung wird vollständig durch professionelle Dienste erbracht. Die Resilienten: Sie sind hoch motiviert, Betreuungsaufgaben zu übernehmen und haben die Möglichkeiten, auch Phasen grosser Belastung durchzustehen. Die Selbstregulierenden: Sie übernehmen Pflegeaufgaben und identifizieren sich damit. Wächst die Belastung, kommt es auf die Fähigkeit zum Selbstmanagement an. Erkennen die Angehörigen den Unterstützungsbedarf rechtzeitig, suchen sie sich Entlastung durch Dritte, und das Gleichgewicht kann wiederhergestellt werden. Die Kritischen: Sie pflegen Angehörige und bewältigen die Situation weitgehend allein – weil sie oder die betreute Person es so wollen. Kommt auch nur eine geringe Zusatzbelastung dazu, setzt eine fatale Erschöpfungsspirale ein. Bis das System zusammenkracht und die Betreuung vollständig durch Dritte gesichert werden muss, zum Beispiel durch einen Heimeintritt. In Bassersdorf gehört die grosse Mehrheit der pflegenden Angehörigen – nämlich 64 Prozent – zum selbstregulierenden und zum kritischen Falltyp.
Wichtig: eine Anlaufstelle
Aus den Forschungsergebnissen leiten die Wissenschaftler insgesamt 90 Empfehlungen an die Gemeinde ab. Das Projektteam BasiviA – Bassersdorf vernetzt im Alter, mit Beteiligung der Gemeinde, der Spitex, des Kompetenzzentrums Pflege und Gesundheit, der Landeskirchen und der Pro Senectute Kanton Zürich – hat einige Punkte favorisiert. Darunter den Aufbau einer zentralen Anlauf- und Koordinationsstelle, verstärkte Information über Entlastungsangebote und deren Finanzierung, Erfahrungsaustausch und Wissensvermittlung für pflegende Angehörige sowie verstärkte Kooperation der Gesundheitsanbieter in komplexen Fällen. Nun wird ein Konzept erarbeitet, dann liegt der Ball beim Bassersdorfer Gemeinderat: Im Frühling 2017 entscheidet die Exekutive über das weitere Vorgehen.
Texte: Susanne Wenger
Erscheinungsort: Programm Socius der AGE-Stiftung